Sung Hwan Kim

Line Wall

Vernissage: Samstag, 16. April 2011, 19 Uhr

Die Kunsthalle Basel freut sich, die erste umfassende Einzelausstellung mit dem Titel Line Wall des koreanischen Künstlers Sung Hwan Kim (*1975, Seoul) in der Schweiz anzukündigen. Kim schuf im Oberlichtsaal der Kunsthalle eine eindringliche Installation im Halbdunkeln, in der Wandzeichnungen und bestehende Videoarbeiten in einer präzisen Rauminszenierung aus architektonischen Elementen, Teppich, schwarzen Farbflächen, selbst-entworfenen Lampen und Lametta präsentiert werden.

Die Ausstellung wird durch einen modifizierten Eingang betreten, der die hohen Türen des neoklassizistischen Saals durch einen schräg abfallenden Gang auf ein menschliches Mass verkleinert. Das körperliche und geistige Verhältnis einer Person zu ihrer Umgebung – zu anderen Personen, zur Sprache, zur Architektur, zum Staat, zu historischen Ereignissen – ist Ausgangpunkt der poetischen und immanent aktualitätsbezogenen Filmarbeiten, Zeichnungen und Performances von Sung Hwan Kim. Aufgewachsen in den 1980er Jahren in Südkorea studierte Kim erst Architektur in Seoul, um anschliessend in die USA zu emigrieren und ein Studium in Mathematik und Kunst abzuschliessen, u.a. am MIT, Cambridge bei der amerikanischen Künstlerin Joan Jonas. Von 2004-05 war Kim als Stipendiat der Rijksakademie in Amsterdam, bevor er 2009 nach New York zog, wo er bis heute lebt und arbeitet.

In seinen Arbeiten verändert Kim unterschiedliche Texturen und Transparenzen, um zu überprüfen, was es überhaupt bedeutet, von einem Ort zu sein, und nicht von einem bestimmten Ort, sei es Ostasien oder die USA. Seine Filme und Performances sind enigmatisch und mythisch und bauen sich weniger anhand einer linearen Narration auf, sondern nehmen eher die Struktur von Liedern an. Lieder sind in jeder Kultur zu finden und gelten als die ursprünglichste Form der Dichtkunst. Lyrische Merkmale wie Wiederholung, Rhythmus, Transformation und die Überlagerungen von Motiven bestimmen alle Arbeiten des Künstlers. Zudem arbeitet Kim seit fünf Jahren mit David Michael DiGregorio (alias dogr) zusammen, der in seiner Musik archaischen Gesang mit zeitgenössischen Popeinflüssen verbindet. DiGregorio’s sphärische Musik und eindringliche Stimme sind tragende Elemente in Kims Filmen und Performances, die aufgrund ihrer Intensität und dem Gebrauch von Elementen wie Masken und anderen symbolisch aufgeladenen Objekten an rituelle Handlungen erinnern. Die Arbeiten stehen jedoch gleichzeitig auch in der Tradition der zeitgenössischeren Performance und Theaterkunst.

Mit schwarzen und grauen Teppichen sowie schwarzbemalten Wänden mit gelegentlichen Farbtupfern hat Kim in der Kunsthalle eine Umgebung geschaffen, die als Resonanzraum bezeichnet werden kann – als Resonanzraum für die Wandzeichnungen und die drei bestehenden Filmarbeiten, welche hier zum ersten Mal gemeinsam präsentiert werden, aber ebenso als Resonanzraum für die vielen Schichten von Erzählungen, Bildern und Tönen, die einen eindringlichen Gesamteindruck bilden und die jeder Besucher individuell erfahren kann. Auch die wie Saiten im Raum gespannten Drähte sind gleichzeitig gestalterisches Element und (potentieller) Klangerzeuger.

Drawing Video (2008) im Eingangsbereich des Saals verbindet die unterschiedlichen Arbeitsweisen von Sung Hwan Kim exemplarisch. Die Arbeit ist eine Kompilation aus drei Aufführungen der Performance Pushing against the air, die 2007 im Rahmen der Performance-Reihe In the Room (2006–09) stattfand. In einem Teil der Performance führte Kim ein Gespräch mit DiGregorio und Byungjun Kwon, während er gleichzeitig auf transparentes Papier zeichnete, das gefilmt wurde. Mit einer der écriture automatique vergleichbaren Verfahrensweise entstehen in dieser analogen Animation in Echtzeit surreale, schematische Figuren – eine Frau, deren Herz im Hals anstatt in der Brust sitzt oder ein Mann mit lauter Punkten im Gesicht. Diese „Live-Zeichnungen“ verweisen nicht nur auf das Verhältnis, das wir zum eigenen Körper haben, sondern auch auf ein grösseres und allgemeineres Gefühl des Anderssein.

Ungbyeon und guyeondonghwa waren zwei Formen von Erzählweisen, die an den südkoreanischen Schulen zu Zeiten des Kalten Kriegs gelehrt wurden, um die Sprechfähigkeit der Schüler zu stärken. Während die erste sich auf öffentliches Reden konzentrierte und vor allem den Jungen beigebracht wurde, bezog die zweite Form gestische Rede und Körpersprache mit ein und galt besonders den Mädchen. Washing Brain and Corn (2010), die zentrale Arbeit im grossen Saal, bezieht sich auf eine Geschichte, die sich 1968 ereignet hat und durch diese Erzählformen populär wurde. Sie handelt von einem Jungen, dessen Mund von nordkoreanischen Spionen aufgerissen wurde, als er ihnen sagte, „Nan kong san tang ee sil eu yo“, oder auf Deutsch „ich hasse die Kommunisten“. Mit teils einfachsten analogen Mitteln schafft Kim traumartige Videobilder von hoher Intensität, die von vergangener antikommunistischer Propaganda im heutigen Kontext eines Waffenstillstands erzählen – etwa, wenn ein militärischer Angriff gestisch als vergängliches Tableau-vivant nachgestellt wird, eine alte koreanische Maschine für die Herstellung von „Kang naeng ee“ (Popcorn) Assoziationen an eine Kanone weckt oder Kim mittels einer projizierten Schablone das Gesicht seiner in den USA aufgewachsenen Nichte bemalt – einer jungen Koreanerin, deren Bezug zur erzählten Geschichte ein rein fiktiver ist.

Die Materialität der Oberfläche – die eigentliche Haut der Dinge – spielt in der Arbeit des Künstlers eine besondere Rolle: Die dunklen Wände sind mit Kreidezeichnungen bemalt, die erst beim Herangehen ganz sichtbar werden, und semitransparente Stoffe oder Spiegelungen werden als Mittel benutzt, um symbolische Bilder zu evozieren. Weiter ist die Kameralinse selbst nicht nur Beobachter, sondern wird (durch das transparente Papier) auch zum Bildträger, zu einer Art Leinwand. Auch in den beiden hinteren Sälen der Kunsthalle arbeitet Kim mit unterschiedlichen Texturen. Diese werden wiederum über einen verkleinerten Eingang (hier mit einem eingebauten verspiegelten Glas) betreten. Während ein Saal vollständig mit schwarzem Teppich ausgekleidet ist, befindet sich im darauffolgenden kleineren Raum ein Arrangement aus unterschiedlichen Stoffschichten und einem dahinter stehenden Tisch, auf dem eine grünbemalte Gitarre und ein Schusterinstrument liegen. Neben einem in Korea geläufigen blauen Moskitonetz, das zu einem wappenartigen Emblem auf die Fensterscheibe drapiert ist, benutzt Kim auch das als Sichtschutz verwendete weisse synthetische Material der temporären Baustelle im Garten der Kunsthalle.

Die städtebauliche Entwicklung von Manhattan und die Bedeutung von New York als Immigrantenstadt und Sehnsuchtsort steht im Zentrum der Videoarbeit,
die titelgebend ist für das Setting in beiden Räumen: Manahatas Dance (2009). Der Film entstand in dem Jahr, als Sung Hwan Kim 33 Jahre alt wurde und nach New York zog. Es war auch das Jahr der amerikanischen Wahlen, als Barack Hussein Obama ins Weisse Haus einzog und die grosse Hoffnung auf einen Wandel verkörperte. Der regulierte öffentliche Stadtraum New Yorks wird in dem Video zur Bühne von einer Reihe von Performances, die eine eigentümliche, individuelle Geschichte erzählen. Manahatas Dance ist ein filmischer Essay über Heimat und Entwurzelung, den Wunsch nach besseren Lebensbedingungen und die Suche nach einem individuell gestaltbaren Raum.

Eine Woche vor Eröffnung der Ausstellung Line Wall fand im Setting von Manahatas Dance eine private Präsentation von Sung Hwan Kim, DiGregorio und ihrer Mitwirkenden Lisa Lightbody mit dem Titel a short presentation of several moments (or Habeas Corpus) statt. Lightbody sass erhöht in einer Ecke des Raums, während Kim ihr Fragen stellte und dazu zeichnete. DiGregorio hatte seine Instrumente – u.a. die Gitarre und der Dreifuss – auf dem Tisch im kleinsten Raum eingerichtet und interpretierte das Gespräch zwischen Kim und Lightbody live in Form von Gesang und Musik. Ausgehend von Lisa Lightbodys Rolle als Anwältin kreisten die Fragen und Antworten um rechtliche Begriffe wie „Habeas Corpus“ (lat. Du habest den Körper), der in den Rechtswissenschaften besagt, dass freiheitsentziehende Massnahmen ohne richterlichen Entscheid nicht zulässig sind. Die Performance verdichtete sich in Rhythmus und Wiederholungen durch Gesang, Zeichnungen und einer Lesung von Rainer Maria Rilkes Sonette an Orpheus (Buch II, 23.) zu assoziativen Bildern, die um die Spannung zwischen Gesetz und Individuum kreisten.

Ein wichtiger Teil der Ausstellung ist das Künstlerbuch mit dem Titel Ki-da Rilke. Es ist die Dokumentation der langen Auseinandersetzung Sung Hwan Kims mit dem zuvor genannten in Prag geborenen Dichter Rainer Maria Rilke (1875–1926). Der erste Teil besteht aus einer auf dünnem Papier und Notizblättern geschriebenen Abschrift der Neuen Gedichte (1907) mit begleitenden Zeichnungen, während zu Sonette an Orpheus (1923) Zeichnungen entstanden, die sich zu eigenständigen Bildergeschichten mit immer wieder auftauchenden Charakteren entwickelten. Diese unterschiedlichen Figuren werden in einem Index auf losen Blättern erläutert. Das Hauptmotiv im Buch, dasjenige der Transformation von Menschen und Dingen, Sprache und Form – sowie die Doppelseitigkeit der Zeichnungen spiegelt sich auch in der Ausstellung wieder: Das Element der Dualität taucht immer wieder auf und Zitate von Rilkes Gedichten finden sich in jedem Film. So auch die Zeile „der erste Stern ist wie das letzte Haus“ des Gedichts Der Lesende aus dem Buch der Bilder (1902), das in Manahatas Dance zu einem Refrain wird, der die beiden Seiten eines Abschieds von einem vertrauten Ort beschreibt. Wie Sung Hwan Kim in Ki-da Rilke schreibt: „Nostalgie sollte uns nicht davon abhalten weiter zu gehen.“

Ein zentraler Teil der Publikation ist der von Kim verfasste Text Line Wall, welcher titelgebend war für die Ausstellung in der Kunsthalle Basel. Darin entwickelt der Künstler aufgrund des deutschen Worts „Leinwand“ eine Assoziationskette an Gedanken und Bildern, welche wie in seinen Arbeiten die Struktur von Sprache und Architektur in Beziehung setzen und zurück zum Körper führen. Wie Kim beschreibt: „Wenn ein Video eine architektonische Form wäre (eine Form des Labyrinths), dann will diese Erläuterung der Eingang zu einem Vorraum sein; oder vielmehr ein gesonderter architektonischer Körper, der mit der ersten Konstruktion verbunden ist, Eingang an Eingang, wie ein Kuss.“

Die Publikation Ki-da Rilke wurde von Robin Watkins gestaltet und wird von der Kunsthalle Basel gemeinsam mit Sternberg Press herausgegeben und vertrieben. Sie ist für den Verkaufspreis von CHF 40.- in der Kunsthalle Basel erhältlich.
Die Ausstellung und die Publikation wurden grosszügig unterstützt von Peter Handschin.

Sung Hwan Kim wurde 1975 in Südkorea geboren und lebt und arbeitet derzeit in New York City. Kim studierte Architektur an der Seoul National University in Südkorea, machte 2000 seinen Bachelor in Mathematik und Kunst am William College, Williamstown und schloss 2003 mit einem Master of Science in Visual Studies am Massachusetts Insitute of Technology MIT, Cambridge ab. Seine Einzelausstellungen umfassen unter anderem Sung Hwan Kim, From the Commanding Heights…, Queens Museum, New York (2011); A Still Window From Two or More Places, Tranzitdisplay, Prag (2010); Goldene Zeiten: Teil 2, Haus der Kunst, München (2010); One from In the Room, (Musikkollaboration mit David Michael DiGregorio aka dogr), New Museum, New York (als Teil einer Performance) (2009); MIT List Art Centre, Cambridge (2009); Pieces from In the Room, Wilkinson Gallery, London (2009); Sung Hwan Kim: In the Room, Gallery TPW, Toronto (2009); In the Room 3, (mit David Michael DiGregorio alias dogr) Gallery TPW, Toronto (2009). Kim war an diversen Gruppenausstellungen beteiligt, unter anderem an The Other Tradition, WIELS, Brüssel (2010/2011); TRUST, Media City Seoul 2010, Seoul Museum of Modern Art, Seoul (2010); Art Premiere, Art Basel (mit Joan Jonas); Montehermoso Cultural Center, Vitoria, Spanien (2009); Monument to Transformation, City Gallery Prag (2009); The Demon of Comparisons, Stedelijk Museum Bureau, Amsterdam (2009); When things cast no shadow, 5. Berlin Biennale (2008). Derzeit bereitet Sung Hwan Kim eine neue Performance vor, die von If I Can’t Dance, Amsterdam und Tate Modern, London in Auftrag gegeben und produziert wird.