Allyson Vieira

The Plural Present

Die Kunsthalle Basel freut sich, die erste Einzelausstellung von Allyson Vieira in Europa zu zeigen. Die Ausstellung eröffnet am Freitag, den 13. September 2013.

„It’s dirty and real“(1) , so beschreibt Allyson Vieira ihre Begeisterung über ihre Reisen zu antiken Stätten in Griechenland. Denn anders als bei den Präsentationen von antiker Kunst und Artefakten in amerikanischen oder westeuropäischen Museen ist hier der Blick auf die Rückseiten der Statuen, Reliefs und Architekturelemente in situ möglich. Es ist gerade dieser Blick auf die Haken, Klammern und Stützen, auf die alten und neuen Reparaturen, der die junge amerikanische Künstlerin interessiert. Denn für sie zeigt sich an diesen Bruchstellen und Innenansichten, wie Material zu Form wird und in den Objekten selbst Gegenwart und Vergangenheit gleichzeitig existieren.
Allyson Vieira greift in ihren Arbeiten Themen und Darstellungsweisen auf, die in der Antike entwickelt und immer wieder hinterfragt wurden. Diese verbindet sie mit dem Repertoire skulpturaler Formen und Methoden des Minimalismus und der Land Art, die das Verhältnis von Material, Form und Prozess unter neue Vorzeichen stellen.
In der Ausstellung The Plural Present in der Kunsthalle Basel zeigt Vieira Skulpturen aus einfachen Konstruktionsmaterialien wie Ziegel, Beton, Metall und Gips. Zwei kollabierende Wände aus Aluminiumschienen – The Long Walls – bestimmen die Choreographie und Wahrnehmung des Raumes. Sie geben die Bewegungsrichtung entlang den Längswänden vor, gleichzeitig bestimmen sie den Blick in den Raum durch ihr regelmässiges Raster. Zwischen den Wänden treffen wir auf die zentrale Figurengruppe Beauty, Mirth and Abundance („Schönheit, Freude, und Überfluss“). Die drei aus Ziegeln herausgearbeiteten weiblichen Figuren im Kontrapost lehnen sich an die häufig kopierte Skulpturengruppe der Drei Grazien an, die sich im Metropolitan Museum in New York befindet. An die Wände des Ausstellungsraumes gelehnt stehen Werke aus der vor etwa einem Jahr begonnenen, fortlaufenden Serie der Clads („Kaschierte Skulpturen“). Sie lassen an antike Stelen und Wandreliefs, geologische Sedimente oder an minimalistische Skulpturen wie John McCrackens monolithische Platten denken.

Es ist der Eindruck physischer Arbeit, der das Erscheinungsbild dieser Werke bestimmt. Sie verharren in dem Moment des Übergangs zwischen Material und Form, in dem die Spuren der Herstellung deutlich sichtbar sind. Die Objekte sind dadurch als „fossilierte Aktionen“(2) lesbar, als material- und formgewordene Handlungen, die die körperliche Betätigung erkennen lassen.
Die Werke beinhalten eine Spannung, die aus Vieiras Versuch resultiert, die Normgrössen der Baumaterialien mit ihrer eigenen Körpergrösse in Einklang zu bringen. Die Masse ihres Körpers bestimmen die Masse der Skulpturen. Sie überträgt diese weiter auf die raumbezogenen Wände aus Aluminiumschienen und setzt so alle Elemente der Ausstellung in ein sorgfältig aufeinander abgestimmtes, metrisches Verhältnis. Vieira spielt mit einem der nachhaltigsten Paradigmen der Antike, dem Satz des Protagoras, nach dem der Mensch das Mass aller Dinge ist. Eine folgenreiche Aussage, die von der Aufklärung später als Geburtsstunde des Humanismus bezeichnet wird.
Heute formuliert sich ein neues Verständnis vom Verhältnis des Menschen zur Welt: Seit einigen Jahren wird der Begriff des Anthropozäns diskutiert, der die Zeit seit der industriellen Revolution als den Beginn einer neuen geochronologischen Epoche bezeichnet.(3) Darin ist der Mensch zum entscheidenden Faktor der biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse geworden.
Die Produktion von Vieiras Arbeiten ähnelt geologischen Kreisläufen, die die Materialien unseres täglichen Lebens, von Architekturen zu Gebrauchsgegenständen, aufnehmen und umwandeln. So entsteht Beauty, Mirth, and Abundance in der Kombination der klassischen bildhauerischen Methoden des Auf-und Abbauens. Alle Überbleibsel, die in diesem Prozess anfallen – Reste des Materials, Verpackungsteile, Farbreste und Dreck – integriert Vieira vollständig in die Clads. Verbunden durch Gips entstehen so neue, eigenständige Konglomerate, die die Geschichtlichkeit ihres Materials vorführen und einen Index ihrer Herstellung darstellen. Dem Übergiessen der Reste mit Gips folgt die sorgfältige Bearbeitung der Oberfläche, die die ursprünglichen Materialwerte und Strukturen betont. Ihre Arbeit an den Clads beschreibt Vieira als einen „Tanz zwischen Chaos und Ordnung“ und bezieht sich damit auf die mythologische römisch–griechische Polarität zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, die mit Ordnung, Struktur und Symmetrie gegenüber Chaos, Unordnung und Natur assoziiert werden.(4)

In den beiden kleineren Ausstellungsräumen, die an den Oberlichtsaal anschliessen, zeigt Allyson Vieira zwei Fotografien und einen Film, der in einer Camera obscura präsentiert wird. Diese Arbeiten dokumentieren Formprozesse und Materialtransformationen der realen Welt, die in einer von der Land Art vertrauten Geste in den Ausstellungsraum übertragen werden. Wie die Clads, die die Dauer ihrer Herstellung dokumentieren, vermitteln diese Bilder einen zeitlichen Verlauf, der durch ihre medienspezifische Zeitlichkeit gedoppelt wird.
Die Fotografien Ups and Downs (Olympia) I & II zeigen von Gras und Efeu überwucherte Ruinen in Archea Olympia, die die Künstlerin bei einer ihrer Reisen nach Griechenland aufgenommen hat. In jeder der Fotografien sind die Motive gespiegelt und gedreht und damit sinnbildlich in die Zukunft und in die Vergangenheit lesbar: als architektonischer Auf- und Abbau, als geologische Kreation und Zerfall.
Der Film Site (40.7117’N, 74.0125’W, 05/03/2013, 15:14-15:39) ist durch die Projektion in der Camera obscura ebenfalls gespiegelt. Er zeigt die Bauarbeiten des neuen One World Trade Centers in New York kurz vor ihrem Abschluss aus der Perspektive der Passanten und Touristen, die sich am Ground Zero täglich versammeln. Das erst nach und nach erkennbare, gespiegelte Abbild verweist sowohl auf die Vergangenheit – die Zerstörung der Twin Towers – als auch auf die ferne Zukunft, in der dieses neue Gebäude wieder zu einer Ruine wird.
Wie in Robert Smithsons Fotografien von Gebäuden und Teilen der öffentlichen Infrastruktur in der Umgebung seiner Heimatstadt Passaic sehen wir auch hier eine „ruin in reverse“(5) , eine umgekehrte Ruine.
Bereits kurz nach den Anschlägen hat sich Ground Zero zu einem Anziehungspunkt verwandelt. Wie Delphi oder die Akropolis in der Antike, ist hier ein zeitgenössischer Pilgerort entstanden, an dem existenzielle Fragen auf banale Schaulust treffen. Mit dem One World Trade Center wird der Ort neu besetzt: Der Bau des Gebäudes anstelle der zerstörten Twin Towers stellt den Versuch dar, die tabula rasa des Ground Zero politisch, symbolisch und physisch neu zu beschreiben. Das Gebäude nimmt den Ort wieder in Besitz – aber die Frage bleibt, ob die architektonische Geste allein helfen kann, die Vergangenheit zu überwinden, das Trauma zu kompensieren und einen Gemeinschaftssinn wiederherzustellen, der durch 9/11 erschüttert wurde.

Alle Arbeiten der Ausstellungen vermitteln eine Ahnung von zukünftigem Verfall und kommender Zerstörung, ohne diese explizit werden zu lassen. Sie offenbaren eine Koexistenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die für alle menschengemachte Dinge gilt, die Teil einer materiellen Kultur sind, ebenso wie für die natürlichen Dinge.
Vieiras Bezug zur Antike hat nicht zum Ziel, an ein scheinbar überzeitlich Klassisches anzuknüpfen, um ihre Arbeiten in einer formalen Geste in einer stilgeschichtlichen Tradition zu verorten. Kulturgeschichtlich ist der Rückgriff auf die Antike ein wiederkehrendes Stilmittel, aktuelle Machtverhältnisse zu legitimieren, wie es beispielsweise in der Aktualisierung der Antike in der Renaissance, im Neoklassizismus des 19. Jahrhundert oder in totalitärer Ästhetik des 20. Jahrhundert sichtbar wird.
Vieira hat einen anderen Blick: ihr Interesse gilt der Geschichtlichkeit der Dinge an sich.
Für sie zeigt sich in Objekten die „Form der Zeit“(6). Durch physische Tätigkeit wird aus Material Form. Objekte tragen die Geschichte ihrer Form mit sich und stellen gleichzeitig eine Aktualisierung der Form in der Gegenwart dar. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Entwicklungen der Vergangenheit manifestiert sich in den Objekten eines gegenwärtigen Moments. Auf dieses Verständnis der Dinge und der Geschichte bezieht sich der Ausstellungstitel „The Plural Present“(7).
Objekte sind die materiellen Überreste, um die sich unsere Fiktion einer kohärenten Vergangenheit rankt. In den westlichen Museen aus ihrem früheren Kontext entfernt oder wie in Griechenland noch Teil der ursprünglichen Umgebung: gemeinsam ist diesen Artefakten, dass sie durch natürliche Erosion oder durch Zerstörung aus Menschenhand zumeist schon übergegangen waren in Natur.
Vieira bringt Materialien und Formen in den Ausstellungsraum, die solche realen Überreste und ihren in der Auflösung begriffenen Zustand zitieren. Die Konstruktionsmaterialien, die sie verwendet, behalten ihre Struktur und ihr Aussehen weitgehend bei. Damit führt Vieira eine Realität in den Ausstellungsraum ein, die dem Bestreben antiker Bildhauer ähnelt, mit der Entwicklung des Kontrapostes ein möglichst reales und lebendiges Abbild des menschlichen Körpers in der Kunst darzustellen.


(1) Allyson Vieira in conversation with Dawn Chan, Artforum, 02.08.2013.
(2) vgl. George Kubler: The Shape of Time. Remarks on the History of Things, Yale 1962.
(3) vgl. Jill Bennett: Living in the Anthropocene, documenta (13), No 053, Kassel 2001.
(4) vgl. Camille Paglia: Die Masken der Sexualität, München 1992.
(5) In: Eva Schmidt und Kai Vöckler (Hrsg.): Robert Smithson, Gesammelte Schriften, Wien 2001, S. 100.
(6) vgl. George Kubler: The Shape of Time. Remarks on the History of Things, Yale 1962.
(7) ebd.


Allyson Vieira, (*1979 in Massachusetts, USA) lebt und arbeitet in New York.
Bis 2001 studierte sie an der Cooper Union of Advancement of Science and Art in New York. 2009 schloss sie ihr Masterstudium in Fine Arts an der Milton Avery Graduate School of Arts, am Bard College in Annandale on Hudson, New York, ab.

Einzelausstellungen: Build On, Build Against / Bâtir sur, bâtir contre, (with Stephen Ellis), Non Objectif Sud, Tulette, Frankreich (2013); Cortège, Laurel Gitlen, New York, NY, US (2012); Aphrodite, Monica De Cardenas, Mailand, Italien (2011); Ozymandias, Laurel Gitlen, New York, NY, US (2010); Untitled Book (Geometry + Democracy), Klaus von Nichtssagend Gallery, Brooklyn, NY, US (2007); Allyson Vieira, Small A Projects, Portland, OR, US (2006).

Gruppenausstellungen (Auswahl): Remainder, Philbrook Museum of Art, Tulsa, OK, US (2013); The Made-up Shrimp Hardly Enlightens Some Double Kisses, Laurel Gitlen, New York, NY, US (2013); A Handful of Dust, Santa Barbara Contemporary Arts Forum, Santa Barbara, CA, US (2013); The Order of Things, NurtureArt, New York, NY, US (2013); Configurations: Valérie Blass, Katinka Bock, Esther Kläs, Allyson Vieira, Public Art Fund at MetroTechCenter Commons, Brooklym, NY, US (2012); Weights and Measures, Eleven Rivington, New York, NY, US (2012); Buy My Bananas, Kate Werble Gallery, New York, NY, US (2012); Lilliput, The High Line, New York, NY, US (2012); Queens International 2012: Three Points Make A Triangle, Queens Museum of Art, Flushing, NY, US (Katalog) (2012); Discursive Arrangements, or Stubbornly Persistent Illusions, Klaus von Nichtssagend, New York, NY, US (2011); Gingko – Goethe – Garden, Arcade, London, UK (2011); Painting and Sculpture, Lehmann Maupin, New York, NY, US (2010); Knight’s Move, SculptureCenter, Long Island City, NY, US (catalogue) (2010); Point to one end, which is always present, Laurel Gitlen, New York, NY, US (2010); Evading Customs, Brown Gallery, London, UK (Katalog) (2009); Short-Term Deviation, EFA Project Space, New York, NY, US (2009); Circular File Channel: Episode 2005, Performa TV commission, New York, NY, US (2009); Bard MFA Thesis Exhibition, UBS Gallery, Annandale on Hudson, NY, US (2009); NOBODIES NEW YORK, 179 Canal Street, New York, NY, US (2009); Champion Zero, Rental Gallery, New York, NY, US (2008); 200597214200022008, Laurel Gitlen, New York, NY, US (2008); Cube Passerby 2008, GBE @ Passerby, New York, NY, US (2008); First Hand Steroids, AMP, Remap KM (2007); #18: Take Care, Champion Fine Arts, Brooklyn, NY, US (Kuratorin, Katalog) (2004); The Freedom Salon, Deitch Projects, New York, NY, US (2004).